Die Lesungen, kuratiert von Uta Ackermann, sind seit drei Jahren fester Bestandteil von artspring. Diesmal gibt es an vier Abenden zehn Premieren: neun Autorinnen des WOW & FANCE Conscious Writing Labs lesen aus ihren Romanprojekten, Philippe Despeysses liest Gedichte auf Französisch, Deutsch und Portugiesisch.
17 Uhr
Kapelle an der Prenzlauer Allee
Prenzlauer Allee 75
Saskia Nitsche
Licht der weißen Sterne
Es war der Sommer, in dem wir im überhitzten Auto über Landstraßen fuhren, zu abgelegenen Kliniken, in denen Professorinnen und Professoren saßen, die renommierte Auszeichnungen erhalten hatten. Ich hatte in diesem Sommer nur einen Dermatologen kennengelernt, der mir auf Anhieb sympathisch gewesen war. Gern hätte ich ihm gesagt, dass er seine Lupe auf dem schweren antiken Schreibtisch liegen lassen sollte. Wie oft hatte ich diese beleuchtete Lupe schon über meinen Armen schweben sehen. An den Beinen beleuchteten sie mich selten, denn die Lupe offenbarte bereits an den Armen das Fluoreszieren. Meine Mutter aber hatte insistiert, bis er sich an mir hinabgebeugt hatte. Ich wollte nicht unter Lupen beleuchtet werden, aber in diesem Sommer fiel mir nichts Besseres ein, als mich immer wieder auf die Rückbank des überhitzten Autos zu zwängen. Ich hoffte, wenn ich mitmachte, ließ man mich bald in Ruhe. Wir fuhren in alle möglichen Landesteile. Mütter und Väter schleppten ihre Kinder in diese Kliniken. Die meisten hatten Neurodermitis oder allergisches Asthma. Aber kaum einem Kind fehlte die Hautfarbe wie mir.
Kathrin Bach
Lebensversicherung
Das Dorf liegt da, wie ich das Kartoffelpüree auf dem Teller anrichte, so, wie es mir meine Mutter vorgemacht hat. Eine große Kelle weiche Masse in die Mitte des Tellers klecksen und mit dem Löffel eine tiefe Kuhle in die Mitte drücken. Danach die braune Sauce hineinschütten und beobachten, wie sie zu einem kleinen See wird. Ein brauner sämiger See, die Ufer aus mürbem Püree. Beides verbindet sich, wenn ich mit dem Löffel hineinfahre und die frisch entstandene Landschaft wieder zerstöre. Ich führe sie in meinen Mund. Sie schmeckt so, wie es in der Küche riecht.
Jelena Kern
Moleskin
Jeden Abend, in der Stunde des Übergangs, hängten wir unsere Kleidung, die beim späteren Auslegen keine Wärme vom täglichen Tragen mehr in sich haben durfte, auf Holzbügel. So konnte das Leinen, so konnte der Cord, so konnten die Strümpfe, die Mützen, die Schals, so konnte all das an der Luft im Hof auskühlen. Während sich die Gestalten vom Erlebten erholten, ihre Falten aushingen und ihre Wärme an den Wind abgaben, wuschen wir unsere
Körper in den von blickdichten Planen abgeschirmten Metallbecken in der Nähe des Baumes. Wir standen in der zweiten Gruppe und warteten darauf, dass uns ein kleines Stück Kernseife in die Hand gegeben wurde. In der Wanne wuschen wir, gegen die Regel, den Kopf zuerst. Wir hatten das Gefühl, dass sich dort hinter den Ohren der meiste Bleistaub verhängte. Bleistaub war nichts, das wir mit in die Nacht nehmen wollten. Er machte uns schwer und unsere Träume hart.
14 Uhr
Kulturkapellen | Verwalterhaus
Prenzlauer Allee 1, 10405 Berlin
Philippe Despeysses
Chaque pas est un mot / Jeder Schritt ist ein Wort / Cada passo é uma palavra
Gedichte auf Französisch, Deutsch und Portugiesisch
Philippe Despeysses
Chaque pas est un mot…
Chaque rue, une phrase…
Chaque quartier, un poème…
Cette ville, un voyage flamboyant.
Jeder Schritt ist ein Wort
Jede Straße ein Satz
Jedes Viertel ein Gedicht
Diese Stadt, eine funkelnde Reise
Cada passo é uma palavra…
Cada rua, uma frase…
Cada bairro, um poema…
Esta cidade, uma viagem deslumbrante.
19 Uhr
Kapelle an der Prenzlauer Allee
Prenzlauer Allee 75
Rea Mair
Zabos Tage
Vor dem Haus klirrte der Kies. Etwas schleuderte gegen das Fenster, schabte an der Scheibe wie Sand. Der Fenstersims wurde übersät von verkohlten Stiften, Fichtennadeln, die das Feuer bis zu ihnen warf. Dann erschütterte der Rahmen. Das Glas bebte. Kohlestücke schlugen gegen die Scheiben. Weg vom Fenster, und die Gardinen zu! Erst als der glühende Hagel sich legte und die Geschosse auf dem Fensterbrett zu liegen kamen, erkannten sie die Fransen und Formen von Bucheckern. Sie glühten noch.
Judith Fritsch
Bring mir den Kopf des Krokodils
Der Satz von vorhin summt mir nun wieder durch den Kopf.
Im Zweifel für den Angeklagten.
Die Worte schwellen an und die Vögel schnappen sie auf, sie rufen es von den Bäumen
herunter, von den Dächern, von den Straßenlaternen, sie singen und schreien, bis sie klingen
wie er.
Schieß die Vögel tot, schieß sie von den Dächern herunter – schieß auf sie alle.
Ann Gaspe
Naturgewalt
Je cours, je rebondis, je trébuche sur les corps en travers du chemin, des champs, de la route, j’apprends à sauter par-dessus comme un bon petit cheval dressé à ne pas renifler la charogne. Je ne suis pas seule, d’autres mains me tirent en ahanant. Komm, Kind ! Keine Zeit zu sterben. Nous courons sur place, le paysage défile mais nos pieds sans semelles tapent toujours au même endroit spongieux, sur cette terre gorgée d’ocre rouge, de vermillon, de noir de pêche et d’os calcinés, de vert de Prusse armée jusqu’aux dents, de pigments corporels qui s’agglomèrent. On ne voit plus la neige. Où est le blanc si mordant, si pur ? Le verglas souillé durcit encore. Je claque des dents, je brûle. Mère, Mutter. Schwanger, énorme. C’est ta main qui me traine brutalement. Ta peur est aussi tiède que ton lait, je les déglutis ensemble. J’apprends à voler hors de mon corps et à absorber l’incandescence inouïe des explosifs. À l’imiter. Après avoir déflagré toute la journée, chaque soir, je plane enfin dans l’air glacé pour y répandre des milliers de petites flammes bleutées. Oh ! Ah ! crient mes frères et soeurs, émerveillés. Gaz naturel trop tôt épuisé. Je vais avoir mille ans avant l’heure, je le sais.
19 Uhr
Kapelle an der Prenzlauer Allee
Prenzlauer Allee 75
Annekathrin Walther
Das gelbe Bild
Sie merkt, wie sie zu ihr aufschließen, aber sie überholen sie nicht, sie bleiben mit etwas Abstand hinter ihr und folgen ihr. Sie spürt, wie sie über irgendetwas kommunizieren, sie reden nicht, aber sie kommunizieren, sie zeigen auf sie mit ihren Zeigefingern oder sie ziehen die Augenbrauen hoch oder sie deuten mit den Händen den Rechtsdrall an, den sie mit ihrem Zuckerwattekopf bemerkt, von dem sie aber bis jetzt dachte, dass er für alle anderen nicht sichtbar ist. Sie können sehen, denkt sie, während sie weitergeht, wie verlockend meine rechte Schläfe dieses graue Linoleum findet, wie gerne meine rechte Schläfe diesen Boden berühren möchte, einfach auf ihm aufliegen möchte, wie meine Hüfte sich aber weigert nachzugeben, wie meine Hüfte unbedingt weiter aufrecht gehen möchte, wie es für meine Hüfte überhaupt gar keine Option ist, dem Wunsch der Schläfe nachzugeben, wie die Hüfte, selbst wenn die Schläfe sich dem Boden nähern würde, einfach weitergehen würde, so dass mein Körper wie ein umgedrehtes U, ein kleiner Torbogen, etwas ungelenk den Gang entlanghumpeln würde.
Beatrix Rinke
Eigene Texte
Navina Wienkämper
Klara, Tröte und ich
Wir singen uns Lieder vor, wenn wir nicht einschlafen können. Ziehen den Schlafsack bis zur Nase und geben uns Küsse aufs Haar. Wir riechen die Stille und schmecken die Zeit. Liegen ohne zu denken und danken dem Moment. Drehen und wenden uns mit unseren Schlafsäcken wie zappelnde Fische auf trockenem Grund. Der Mond kriecht durchs Fenster und legt sich zu uns. Plötzlich schnarchen wir schon.