Vernissage: Samstag 22. Oktober um 19 Uhr
Ausstellung: 22. 10. – 02. November
Öffnungszeiten: dauerhaft von außen zu sehen
Pop Up Store: Rathauscenter Pankow, 1. OG, Breite Straße 20, 13187 Berlin
Turbulenzen
Mit der Rauminstallation „Turbulenzen“ widmet sich Niels Wehr den Bewegungsqualitäten von Industriegebläsen. Ursprünglich dazu gefertigt, um Keller nach Überflutungen zu trocknen oder Großbaustellen zu belüften, rücken die leistungsstarken Turbinen hier selbst ins Rampenlicht und führen ein stürmisches Ballett auf: mal tastend und zart, dann wieder dringlich und mit großem Eifer. An die Decke gehängt, bringen sich die Gebläse mit ihren Motoren aus eigener Kraft zum kreiseln, schlängeln sich hinauf, schaukeln, schlagen Pirouetten und drehen sich vor allem nur um sich selbst.
Den choreografischen Ausgangspunkt bildet das bildhauerische Figurenideal „Figura Serpentinata“ aus der Spätrenaissance. Der ital. Ausdruck bedeutet soviel wie „schlangenförmige Figur“ und bezeichnet eine Körperhaltung in der Kunst, bei der die Figur in einer spiralförmigen, verdrehten Pose dargestellt wird. Im 16. Jhd. wurde mit diesem Effekt versucht, ein flammendes Heraufschwingen und Tänzeln zu erzeugen. Der Begriff taucht vor allem in frühen kunsttheoretischen Schriften auf – etwa bei Lomazzo („Trattato dell’arte della pittura“, 1584) und Armenini. Die Idee reicht aber schon in die Spätphase der Hochrenaissance zurück, wo Leonardo da Vinci und Michelangelo ein gesteigertes Interesse an Bewegung, Ausdruck und Dreidimensionalität überkam. Statt klarer Ruhepunkte und harmonischer Proportionen wurde nun nach verdrehten Übersteigerungen und tänzelnder Eleganz gesucht.



Außerdem zeichnet sich die „Figura Serpentinata“ durch den Verzicht auf eine hierarchische Frontalperspektive aus. Jeder Blickwinkel rundherum ist gleichwertig und die Skulptur damit konsequent dreidimensional, womit das rezipierende Subjekt kunsthistorisch zum ersten Mal dergestalt in den Mittelpunkt rückt. Giambolognas Skulpturen gelten hier als Paradebeispiel und zeigen perfekte spiralige Bewegungen von unten nach oben.
Diese raumzeitliche Dynamik aus dem 16. Jhd. treibt „Turbulenzen“ in eine zeitgenössische Objektchoreografie als Rauminstallation im artspring Pop Up Store. In der Shoppingmall des Rathaus-Centers Pankow unterbrechen die wirbelnden Industriegebläse die gewohnte Aufteilung der sinnlichen Eindrücke beim Einkaufen nachhaltig. „Turbulenzen“ springen ins Auge, leiten näher ans Geschehen und kippen eindrücklich aus der Logik der Warenästhetik von Schaufenstern heraus.
Die Hochleistungsgebläse hängen frei schwebend von der Decke, nur mit Stahlseilen und Stromkabeln verbunden, die ihnen erlauben zu rotieren, zu schwingen und zu taumeln. Die Stahlkörper sind schwer, doch ihr Bewegungsfluss ist geschmeidig und tänzerisch, wodurch ein Paradox zwischen Materialität und Bewegung entsteht. Wie im Figurenideal der Spätrenaissance läuft auch hier alles auf das schwindelerregende Kreisen um die eigene Achse hinaus, das Drehen um sich selbst.
Die Gebläse sind auch akustische Körper und das brummende Rauschen der Motoren prägt den Soundtrack. Hierbei entsteht erheblicher Wind, da die Luftmassen vor sich hergeschoben werden, obwohl die Rotoren das Abdrücken von der Raumluft zur eigenen Bewegung nutzen. Denn „Turbulenzen“ gelten in der Physik als hochkomplexe, energiegeladene und schwer berechenbare Erscheinungen. Sie bezeichnen eine Strömungsform von Flüssigkeiten oder Gasen, bei der die Bewegung nicht gleichmäßig und geordnet, sondern chaotisch, unregelmäßig und stark verwirbelt verläuft. Geprägt durch schnelle und ständige Änderungen in Strömungsrichtung und -geschwindigkeit gelten turbulente Strömungen als größte Herausforderung für die Strömungsmechanik.
Mit „Turbulenzen“ muss gerechnet werden.
Technische Leitung: Malte Hurtig
Großer Dank an: Helena Zaïda und Leander Ripchinsky



Niels Wehr studierte Angewandte Theaterwissenschaft am gleichnamigen Institut der Justus-Liebig Universität Gießen bei Heiner Goebbels und Xavier LeRoy. Er arbeitet an der Schnittstelle von Performance, Choreografie und Videokunst. Seine Ausstellungen und Performances waren z.B. im Palais de la Porte Dorée Paris, im H.A.U. Berlin oder im Staatstheater Darmstadt zu sehen. In Frankfurt am Main zeigte er die digitale Raveperformance „Always Hardcore“ am Künstlerhaus Mousonturm und widmete sich plattformbasierten Erzähl- und Kommunikationsstrategien an der Vagantenbühne Berlin und am Institut für Digitaldramatik des Nationaltheater Mannheim.
Der gebürtige Leipziger bemüht sich um eine ureigene Kraft von Kunst durch Bewegung und sucht hier nach Alternativen zur Allgegenwart des Sinnhaften und Zweckdienlichen.