Die Artothek – Ein Gespräch mit Ricarda Vinzing, Leiterin der Graphothek Berlin

»…die Angst vor Kunst, dass Kunst etwas Elitäres ist, womit man sich auskennen muss, um sie überhaupt anschauen zu dürfen. Diese Idee würde ich gern aus den Köpfen bekommen…«

In den 70er Jahren gab es einen Boom von Artothek-Gründungen. Die Erwartungen waren hoch in den Anfängen. Wie hat sich das entwickelt?
1968 war das etwas ganz Neues. Die Graphothek Berlin ist die erste Artothek, die in Deutschland gegründet wurde. Das wurde damals sehr gut angenommen. Während der ersten Jahre hat sich die Anzahl der Werke extrem gesteigert. Die Leihe begann mit 160 Werken, 1972 waren es bereits 1200. Eine beachtliche Steigerung, bedenkt man, dass es damals keinen Ankaufsetat gab.

Wie konnten so viele Werke gesammelt werden?
Gesammelt wurden vor allem Druckgrafiken von Berliner Künstlerinnen und Künstlern, die diese Werke der Berliner Graphothek geschenkt haben. Das Projekt hat sich schnell herumgesprochen und es gab viele, die mitmachen und in der Sammlung vertreten sein wollten. Später konnten dann auch Werke angekauft werden, seit 2006 haben wir glücklicherweise einen konstanten Ankaufsetat.
Wir sammeln seit 1968 kontinuierlich zeitgenössische Kunst, das heißt wir haben einen guten Querschnitt der Kunst der letzten 50 Jahre. Der zweite Schwerpunkt ist die Klassische Moderne.
Da haben wir alle wichtigen Strömungen, zum Beispiel Kubismus, Surrealismus, Expressionismus.

Was war die ursprüngliche Idee der Gründer – Künstler Siegfried Kühl (1929-2015) und Volksbildungsstadtrat Horst Dietze (1927-2014)?
Mit der Graphothek wollten sie verschiedene Ideen verwirklichen. Zum einen die Künstlerförderung: Kommen die Werke zu den Menschen nach Hause, werden auch die Künstler:innen bekannter. Man lädt Freunde ein, die Werke werden von vielen Personen gesehen. Es ist eine ganz andere Kunstwahrnehmung als im Museum. Man geht nicht an hunderten Werken vorbei, sondern hat drei Werke zuhause und mit denen beschäftigt man sich. Zusätzlich gab es von Anfang an Ausstellungen, um den Künstlerinnen und Künstlern eine größere Reichweite zu ermöglichen.
Und es gab die Idee, Verkäufe zu vermitteln. Damals hat das gut funktioniert. Heute ist das kein Schwerpunkt mehr, weil wir in Zeiten des Internets nicht mehr die Vermittler der Kontaktdaten sind. Ein weiterer wichtiger Aspekt war und ist die Kunstvermittlung, die Idee, dass originale Kunst für jeden zugänglich ist.

Wie viele Nutzer:innen hat die Graphothek?
In den letzten Jahren ist die Zahl mehr oder weniger konstant. Die meisten sind langjährige Kunden,
sie haben uns aus Tegel hierher begleitet ins Märkische Viertel, sind mindestens 20 Jahre bei uns.
Das ist der grobe Kundenstamm. Dann gibt es Menschen, die neu zu uns kommen, auch Jüngere, Familien. Das sind zum Beispiel die Kinder von Menschen, die in den Anfangsjahren bei uns angefangen haben zu leihen, mit Kunst aufgewachsen sind. Das ist etwas, was unsere Arbeit bestätigt. Wer mit Kunst aufwächst, einen Zugang bekommt, der bleibt bei der Kunst. Das finde ich extrem wichtig.

Der Bildungsgedanke, dass Kunst zu breiteren Bevölkerungsschichten kommt, ist damit auch verknüpft?
Das ist die Grundaufgabe, dass Kunst niedrigschwellig zur Verfügung steht. Wir sind ein offener Raum, jeder kann kommen und sich Kunst anschauen, ohne zu leihen. Das ist kein Muss. Wir haben großes Glück, dass Bibliotheksnutzer kommen, die uns durch Zufall entdecken. Manchmal bemerke ich Bibliotheksnutzer, die zu uns nach oben kommen, weil sie denken, da geht die Bibliothek weiter, zwischen den Bildern stehen und ganz erschrocken sind. Wenn ich sie herein bitte, sage, sie können sich gern umschauen, sind sie teilweise sehr zurückhaltend, sagen »Oh nein, mit Kunst kennen wir uns gar nicht aus«, und gehen die Treppe gleich rückwärts runter. Das finde ich wahnsinnig schade. Gucken schadet niemandem und stört niemanden.

Es muss sich nicht jeder mit Kunst auskennen. Aber die Angst vor Kunst, dass Kunst etwas Elitäres ist, womit man sich auskennen muss, um sie überhaupt anschauen zu dürfen, diese Idee würde ich gern aus den Köpfen bekommen.

Kultur- und Kunstvermittlung sind ein wichtiger Aspekt der Graphothek…
Wir haben mehrere Schwerpunkte. Praktische Workshops, wo die Teilnehmerinnen und Teilnehmer selbst aktiv werden, ausprobieren, wie ein Linolschnitt angefertigt wird oder einfach mal einen Pinsel in die Hand nehmen, um eine gewisse Wertschätzung für künstlerische Produktion zu erfahren.

Wir bieten zum anderen kunsthistorische Seminare an, Seminare für Menschen, die überhaupt noch nicht viel mit zeitgenössischer Kunst in Berührung gekommen sind. Sie können sich in kleineren Gruppen über Werke der Graphothek austauschen, alles unter fachlicher Anleitung. Seminare und Workshops werden alle von Künstler:innen und Kunsthistoriker:innen geleitet.

Vor allem wollen wir bestimmte Themen der Kunstproduktion vermitteln: Wie entstehen Kunstwerke? Wie viel Arbeit steckt darin?
Was mir auffällt ist, dass zum Beispiel Druckgrafiken mit Reproduktionen gleichgesetzt werden.
Das ist ein bisschen Aufklärungsarbeit, die mir selber am Herzen liegt: zu zeigen, was ist ein Siebdruck, wie entsteht eine Lithografie. Was ist eigentlich der künstlerische Aspekt daran?

Wie war das in der Pandemiezeit? Welche Erfahrungen haben Sie da gemacht?
Unser Kundenstamm ist komplett erhalten geblieben. Interessanterweise hatten wir gerade nach den harten Lockdowns auf einmal viele neue Leute in der Graphothek stehen, die sich überlegt haben: Jetzt wollen wir auch Kunst zuhause haben.

Wie stellen Sie sicher, dass die Qualität gewahrt wird? Wer sucht die Kunst aus und nach welchen Kriterien?
Wir kaufen nur Kunst von professionellen Künstlerinnen und Künstlern. Es sind Fachleute, die auswählen: Kunsthistoriker:innen, die sich mit zeitgenössischer Kunst auskennen und beurteilen können, ob ein Werk eine bestimmte Qualität hat und bestimmten Qualitätskriterien entspricht.
Das ist ja auch die Idee der Graphothek von Anfang an gewesen: qualitätvolle Kunst anzubieten.

Es ist in Berlin sehr viel gesammelt und angekauft worden. Hat sich das verändert?
Wir haben jedes Jahr Neuerwerbungen und unterstützen damit Künstlerinnen und Künstler.
Die Künstlerförderung ist weiterhin ein großes Thema. Das betrifft den ganzen Bezirk. Wir sind eingegliedert im Fachbereich Kunst und Geschichte vom Bezirk Reinickendorf. Dazu gehören die kommunalen Galerien, die Gedenkstätten, das Museum Reinickendorf und die resiART. All diese Orte haben verschiedene Ansätze der Künstlerförderung und Kunstvermittlung. Überall werden Workshops gegeben und überall sind Künstler:innen eingebunden. Die kommunalen Galerien machen Ausstellungen mit professionellen Künstlern und Künstlerinnen. Das ist als Gesamtkonvolut zu sehen.

Wie sieht es mit der Digitalisierung aus? Sie haben ein großes Archiv. Alles auf Papier. Wie sieht die Zukunft aus?
Wir haben Kataloge, wo alle Bilder auf Papier abge­druckt sind, quasi historische Dokumente noch aus den 70er Jahren. Die werden weitergeführt. Unsere älteren Nutzerinnen und Nutzer kennen diese Kataloge, lieben sie. Und deswegen werden sie noch eine Weile bleiben. Wir haben aber seit ein paar Jahren auch eine Datenbank, in der unser kompletter Bestand digitalisiert ist. Sie ist geeig­neter, weil sie nicht nur nach Künstler:innen sortiert ist, sondern zum Beispiel nach Farben. Oder man kann nach Motiven suchen, nach Größen. Zusätzlich haben wir natürlich auch eine Website. Menschen, die neu zu uns kommen, erwarten, digital den Bestand einsehen zu können.

Ist das Konzept Artothek zukunftsfähig? Die Kommunen sind u.a. in der Pandemiezeit belastet worden.
Artotheken haben einen guten Ruf und werden weiterhin gefördert. Sie sind ein wichtiges Standbein in der Berliner Kulturlandschaft. Wir sind mit einem Ankaufsetat bestückt und das ist ja eine Wertschätzung. Es ist nicht abzusehen, dass sich das in nächster Zeit ändern wird.

Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit für unser Gespräch genommen haben! Das Interview führte Susanne Gupta

Graphothek Berlin
Königshorster Straße 6, 13439 Berlin
www.graphothek-berlin.de

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